Niederrhein Vorderdeckel des Codex Aureus aus Freckenhorst mit Majestas Domini, 4. Viertel 11. Jh.
Zu den herausragenden frühen Goldschmiedewerken in Westfalen zählt der mit kostbarem Edelmetall geschmückte Buchdeckel einer Handschrift, die deshalb als Codex aureus (Goldenes Buch) bezeichnet wird. Buch und Einband stammen aus dem im 9. Jahrhundert begründeten adeligen Frauenstift St. Bonifatius in Freckenhorst. Der aus konservatorischen Gründen nicht ausgestellte Pergamentband (im Staatsarchiv Münster) besteht aus zwei zu unterschiedlichen Zeiten gefertigten Teilen. Im 11. Jahrhundert entstanden die vier Evangelien, Auszüge für die liturgischen Lesungen (Perikopen), Kanontafeln und ein Stammbaum Christi. Einige Seiten der Handschrift sind mit kunstvollen Miniaturen geschmückt. Die Auswahl und Reihenfolge der Festtage im Kalender mit den Perikopen weist Übereinstimmungen mit zwei ottonischen Evangeliaren aus der Abtei Corvey bzw. (vermutlich) aus dem Frauenkonvent Gandersheim auf, dem neben Essen und Quedlinburg bedeutendsten herrschernahen Frauenstift Sachsens. Von den wirtschaftlichen Aufgaben und Funktionen eines Frauenstifts zeugt der jüngere Teil des Codex aureus. Er enthält u.a. eine Art ‚Archiv’ mit Aufzeichnungen zu Rechtsgeschäften und Besitzverhältnissen und ein Reliquienverzeichnis. Stilkritische, kodikologische und historische Argumente sprechen für eine Entstehung des Goldschmiedeeinbandes und des älteren Handschriftenteils im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts. Der Einband besteht aus einer Eichentafel, in deren Zentrum das hochrechteckige elfenbeinerne Relief mit der Darstellung des Weltenrichters Christus mit den vier apokalyptischen Wesen eingelassen ist. Die Goldblechverkleidung ist mit Rankenfiligran und ehemals üppigem Perl- und Steinschmucks besetzt. Mit der hier mehrfach sich wiederholenden Zwölfzahl verweist die Goldschmiedearbeit u.a. auf die zwölf Grundsteine des Himmlischen Jerusalem, das nach biblischer Beschreibung im Glanz von Gold und Edelsteinen erstrahlt (vgl. Kapitel LM 1). Dieser Bezug auf die letzte richterliche Instanz Gottes sollte die Rechtmäßigkeit und Dauerhaftigkeit des schriftlich niedergelegten Inhalts veranschaulichen und garantieren.
Petra Marx
Jászai, Géza: Der Prachtdeckel vom ›Goldenen Buch‹ aus Freckenhorst, in: Kirche und Stift Freckenhorst. Jubiläumsschrift zur 850. Wiederkehr des Weihetages der Stiftskirche in Freckenhorst am 4. Juni 1979, Warendorf 1979, S. 193–197. Krone und Schleier, Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Ausst. Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, und Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, Kat. Nr. 192 a,b (Hedwig Röckelein, Hermann Arnhold). Stiegemann, Christoph (Hrsg.): Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik, Ausst. Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum und Domschatzkammer, Museum in der Kaiserpfalz und Städtische Galerie am Abdinghof zu Paderborn, 2 Bde., München 2006, Kat. Nr. 455 (Michael Peter). Goldene Pracht. Mittelalterliche Schatzkunst in Westfalen [Ausst. Kat.], München 2012, Kat. Nr. 25 (Petra Marx)
Leihgabe des Staatsarchivs Münster
Maße
Höhe 22.6 cm Breite 17.5 cm Tiefe 1.8 cm
Material
Elfenbein, Goldblech, Edelstein, Perlen, Perlmutt, Glasfluss, Eichenholz Inventarnummer
G-1008 LG Standort
Raum 1.02 Kunstwerk des Monats
KdM_04_2009.pdf