Mittelrhein Unnaer Pietà, um 1380
Das Motiv der aus der Passionsgeschichte herausgelösten Maria, die ihren toten Sohn betrauert, entstand im Zuge der spätmittelalterlichen Mystik. Der Pietà genannte Bildtypus (italienisch, von lateinisch pietas, das heißt Erbarmen, Liebe) diente der aktiven Versenkung (lateinisch compassio, das heißt Mitleid) in die Leiden Christi und der Gottesmutter in Gebet und Andacht. Der deutsche Begriff Vesperbild rührt von der Einteilung der klösterlichen Stundengebete entsprechend dem Passionsgeschehen, wonach Kreuzabnahme und Beweinung Christi in die Vesperstunde fielen. Die ursprünglich aus der Clemenskirche in Unna stammende, 1907 erworbene Figurengruppe zählt in ihrer Monumentalität und herausragenden künstlerischen Qualität zu den Hauptwerken dieses Typus. Sie zeigt eine ungewöhnliche, wohl auf italienische Vorbilder zurückgehende Anordnung: Maria umfängt den deutlich kleineren Leib Christi nicht wie sonst auf einem Thron sitzend, sondern in einer bewegt wirkenden Schrittstellung. Offenbar wird hier der Moment unmittelbar nach der Kreuzabnahme gezeigt. Der Grashügel, auf dem Maria kniet, ist durch menschliche Knochen als der Hügel Golgatha gekennzeichnet. Indem Maria mit ihrem linken Fuß auf einen Schädel tritt, triumphiert sie durch das Erlösungsopfer ihres Sohnes über den Tod. Ganz bewusst hat der unbekannte Bildschnitzer den Kontrast zwischen Maria, ihrem vom Schmerz gezeichneten jugendlich schönen Gesicht, ihrem weich fließenden, die beiden Figuren umhüllenden Gewand und dem ausgemergelten, erstarrten Körper ihres Sohnes mit den wirklichkeitsnahen Wundmalen herausgearbeitet. Diese Wirkung wird durch die besonders gut erhaltene originale Farbfassung noch verstärkt. Die Oberflächen der Hautpartien (Inkarnate) betonen den diesseitigen, menschlichen Charakter der Heiligenfiguren; die reiche Verwendung von Gold entrückt das Bildwerk ins Überirdische. Das blaue Futter des Marienmantels ist mit Goldornamenten verziert. Den ebenfalls vergoldeten Sockel schmücken punzierte Muster. Als ehemaliger Aufstellungsort der Gruppe ist eine Ecke oder Nische wahrscheinlich. Dabei boten sich den Gläubigen mehrere Ansichten, die einmal den Hinweis auf die Qualen Christi, einmal auf die zärtliche Verbindung von Mutter und Sohn in den Vordergrund rückten. Die Raffinesse und Kostbarkeit ihrer künstlerischen Gestaltung spricht für eine Entstehung der Unnaer Pietà zur Zeit des »Schönen Stils« im ausgehenden 14. Jahrhundert, vielleicht in einer Mainzer Werkstatt.
Marx 2014
Barbara Rommé: Die Marienklage aus Unna: Ein kölnisches Meisterwerk aus der Zeit um 1350. In: Marx, Petra (Hg.): Neue Forschungen zur Alten Kunst (Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde, Bd. 85/86). Münster 2010. S. 85–101. Robert Suckale u. LVR-Landesmuseum Bonn (Hg.): Schöne Madonnen am Rhein [Ausst. Kat.]. Leipzig 2009. S. 73–77. Gerhard Lutz: Unnaer Pietà. In: Albrecht, Thorsten [u. a.]: Gotik. In: Klein, Bruno (Hg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland (Bd. 3). München 2007. Kat. Nr. 135. Petra Marx: Unnaer Pietà, um 1380, in: Einblicke – Ausblicke. Spitzenwerke im neuen LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, hrsg. v. Hermann Arnold, im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Wienand Verlag, Köln 2014, S. 70f.
Maße
Höhe 127 cm Breite 97 cm Tiefe 53.5 cm
Material
Nussbaumholz Inventarnummer
E-140 LM Standort
Raum 1.07 Kunstwerk des Monats
KdM_06_1984.pdf