Ernst Ludwig Kirchner Kastanienallee, 1916
Als eines der ersten Bilder für die Galerie der Moderne kam das Gemälde „Kastanienallee“ im Jahr 1948 in die Museumssammlung. Es gehört zur großen Gruppe der Straßenszenen Kirchners, die insbesondere zwischen 1913 und 1915 in Berlin entstanden und die Nervosität sowie Erotik der Großstadt zeigen. Die „Kastanienallee“ scheint sich allerdings abseits des wilden, obszönen Treibens Berlins zu befinden. Kirchner verortet nur eine einzige Person, einen Mann, der die Straße in Richtung der Betrachtenden schreitet. Ganz in Dunkelblau gekleidet, zieht er starr einen Karren hinter sich her. Im Komplementärkontrast zu den blühenden, grünen Kastanienbäumen sticht die ins Feuerrot changierende Straße hervor.
Die Betrachtenden scheinen wie aus einem Fenster auf die Szene hinabzublicken. Durch diesen hohen Standpunkt und die verzerrte Perspektive, aber auch durch die starken Farbkontraste wirkt die Szenerie irritierend und beängstigend. Was transportiert der Mann auf seinem Karren, was verbirgt sich hinter der hohen Mauer am rechten Bildrand? Der gelbe Himmel hinter den formatfüllenden Bäumen wirkt unheilvoll. Der Pinselduktus Kirchners ist kräftig und unruhig, die Blütenkerzen der Kastanien richten sich wie Pfeilspitzen nach oben. Es geht Kirchner nicht um die exakte Wiedergabe der Umgebung, vielmehr werden die Betrachtenden durch Farb- und Formgebung zu Assoziationen angeregt. Es herrscht eine Stimmung von Verunsicherung, Bedrohung und Einsamkeit. Das subjektiv Erlebte, das Seelisch-Geistige des Künstlers beim Malen wird spürbar.
Kirchner malte dieses Bild mitten im Ersten Weltkrieg. Seine exzessive Lebensweise und der Kriegsbeginn hatten eine schwere nervliche Krise ausgelöst. 1915 meldete er sich „unfreiwillig freiwillig“ (Wolf 2003, S. 67) zum Kriegsdienst, wurde aufgrund psychischer Probleme aber schon nach zwei Monaten für untauglich erklärt. Er begab sich in Davos in der Schweiz in Behandlung und wählte 1938 den Freitod. Seine Ängste und innere Zerrissenheit spiegeln sich in diesem Werk.
Gruber, Emanuela: Ernst Ludwig Kircher. Paar vor der Droschke, 1914 (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster. Das Kunstwerk des Monats, Dezember 2012), Münster 2012.
Arnhold, Hermann: Ernst Ludwig Kirchner. Frau mit Kind unter Tannen, 1916 (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster. Das Kunstwerk des Monats, Juli 2009), Münster 2009.
Mayr, Gundula: 100 Jahre Künstlergruppe „Brücke“ – Werke aus der eigenen Sammlung [Ausst.-Kat. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 2005], Münster 2005.
Wolf, Norbert: Ernst Ludwig Kirchner. 1880-1938 – Am Abgrund der Zeit, Köln 2003.
- - um 1916 Dr. Heinz Clingestein, Leverkusen - [...] - spät. 1948 Galerie Werner Rusche, Köln - seit LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, erworben von der Galerie Werner Rusche, Köln