Max Ernst Oiseau d’outre mer (Vogel aus Übersee), 1954
Immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, entwickelte Max Ernst ab 1942 die Technik der Oszillation, eine halbautomatische Vorgehensweise, die mit dem Prinzip des Zufalls arbeitet. Dafür versah er die Unterseite einer leeren Dose mit einem kleinen Loch, befestigte sie an einer Schnur und füllte Farbe hinein. Durch gleichmäßiges Schwenken tropfte die flüssige Farbe auf die flach aufliegende Leinwand, sodass sich nach einiger Zeit ein abstraktes Liniengeflecht bildete. Diese Vorform des Dripping fand ihre Fortsetzung in der amerikanischen Malerei des abstrakten Expressionismus. Bekanntheit sollte diese Technik vor allem durch Jackson Pollock und seine Action Paintings erlangen. Ein zartes Gerüst aus weißen Linien überzieht die Oberfläche des Gemäldes Oiseau d’outre mer. Sie bilden die Begrenzungen für die großen und kleinen Felder, aus denen Max Ernst mittels unterschiedlich starker Farbschichten das Bild entstehen lässt. An einigen Stellen ist die Farbe mit einem Spachtel wieder abgetragen worden, sodass die helle Leinwand hindurchscheint. Durch dieses Verfahren der Grattage (frz. »gratter«, abkratzen) entstanden die changierenden Nuancen, die neben dem vorherrschenden Rot das gesamte Farbspektrum umfassen. So wie Max Ernst selbst durch freies Assoziieren sein Motiv fand, ist der Bildinhalt auch für den Betrachter offen deutbar: Während sich in der unteren rechten Bildhälfte die einzelnen Felder zu Fischkörpern zusammenzufügen scheinen und sich das Farbmosaik zu einer wogenden Meereswelle verdichtet, scheint in der Bildmitte ein Vogel über das Wasser zu gleiten. Das Entstehungsjahr des Oiseau d’outre mer fiel zusammen mit der endgültigen Rückkehr des Künstlers nach Europa, der während des Zweiten Weltkriegs in die USA emigriert war. So ließe sich der Vogel über dem Meer auch als Alter Ego des Künstlers deuten, der 1953 aus dem transatlantischen Exil in die Heimat zurückkehrte. Das Vogelmotiv ist eine Konstante im OEuvre Max Ernsts: Als Initialerlebnis schilderte er den Tod seines Lieblingsvogels, ein Kakadu namens Hornebom, der mit der Geburt seiner Schwester Loni zusammenfiel. Dieser Vorfall in seiner Kindheit habe in seiner Vorstellung zu einer Vermischung von Menschen und Vögeln geführt, die in seiner Kunst Ausdruck finden sollte.
Emanuela Gruber
Werner Spies u.a. (Hg.): Max Ernst. Traum und Revolution, Ostfildern 2008.
Trescher, Stephan: Max Ernst. Oiseau d’outre mer (Vogel aus Übersee), 1956 (Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Das Kunstwerk des Monats, Dezember 1995), Münster 1995.
Spies, Werner (Hg.): Max Ernst. Retrospektive zum 100. Geburtstag, München 1991.
Spies, Werner (Hg.): Max Ernst. Retrospektive 1979, München 1979.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Maße
Höhe 60 cm Breite 81 cm
Material
Öl, Leinwand Inventarnummer
999 LM Standort
Raum 2.04