Franz Radziwill Der Streik, 1931
Ein Streik? – Aber wo sind die Streikenden und ihre Kampffront, die jeder Rückblick auf den Beginn der 1930er-Jahre, auf die turbulente Endphase der Weimarer Republik, zu suggerieren scheint? Die Bildwelt Franz Radziwills fällt aus jedem gängigen Erklärungsraster. Als gelernter Maurer war der eigenwillige Autodidakt nach dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges nur kurzzeitig mit akademischen Lehrinstituten in Kontakt gekommen, bevor er sich schon mit knapp 30 Jahren durchaus selbstbewusst in den abgelegenen Nordsee-Fischerort Dangast am Jadebusen zurückzog. Statt Lärm und Aufruhr der Streikenden beherrscht eine bleierne Stille – wie vor einem Gewitter – die menschenleere Vorstadtstraße mit der bestreikten, lahmgelegten Baustelle. Viele Bildelemente des Magischen Realismus und der Neuen Sachlichkeit, die ab etwa 1925 expressive Gesten und Farbräusche verdrängten, sind in Radziwills überwirklicher Traumwelt voller Ängste und Drohungen versammelt. Die Banalität des Standortes zwischen verfallenden Hausmauern und einer verrostenden Eisenbahnbrücke (so lautete 1931 auch der ursprüngliche Bildtitel) gipfelt im Bildmittelpunkt in einem Lieblingsmotiv vieler zeitgenössischer Maler, einem Bahnübergang. Dessen Schranken weisen hilflos auf die kosmische Welt über uns, in der unmenschlich kranke und kalte Aggressivität lauert, fast wie in einem Horror-Klassiker von H. P. Lovecraft. Ein kranker Stern (von einer Leben spendenden Sonne kann keine Rede sein) beleuchtet fahl die apokalyptische Szene, der Radziwill später während der NS-Diktatur wie auf vielen anderen Gemälden neueste Horror-Technik – hier in Form eines Sturzkampfbombers (»Stuka«) – hinzugefügt hat. Auch entstammen der neben der Baustelle abgestellte Sarg und das Absperrgitter dieser späteren Übermalung, die die Bildaussage pessimistisch zur Anklage zuspitzt: Die Verstümmelung der Welt durch das Ausplündern ihrer Ressourcen wird in kosmischem Grauen enden. Radziwill ist ihr an der deutschen Romantik, an De Chirico und den Surrealisten geschulter melancholischer Beobachter und Prophet.
Jürgen Krause
Klein-Wiele, Holger: Franz Radziwill, Der Streik, 1931. In: LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster (Hg.): Das Kunstwerk des Monats. März 2007. Münster 2007. Firmenich, Andrea u. Rainer W. Schulze: Franz Radziwill 1895 bis 1983. Monographie und Werkverzeichnis [Ausst. Kat.]. Köln 1995.
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- - bis mind. 1940er Jahre im Besitz des Künstlers - [...] - o.J.–1960 Freie Künstlergemeinschaft Schanze e.V., Münster - seit 1960 LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, erworben von der „Freien Künstlergemeinschaft Schanze e.V.“, Münster