Fassbinder II (Drawing for Münster), 1984
Raum, Körper, Form und Gewicht sind die elementaren Faktoren im Schaffen des amerikanischen Künstlers Richard Serra. Dies gilt keineswegs allein für seine kolossalen Skulpturen aus gewalztem Stahl oder seine ausbalancierten Objektkonstellationen aus Blei, sondern auch für die monochrom schwarzen Zeichnungen, die er mit Ölkreide auf großformatigen Leinwänden schuf. Im Allgemeinen weniger bekannt als sein skulpturales Werk, erlangten die zeichnerischen Arbeiten Serras seit Anfang der 1970er Jahre eine gleichberechtigte Rolle innerhalb seines OEuvres. Mit ihnen setzte Serra seine skulpturalen Raumexperimente fort, die er zuvor mit begehbaren Innenrauminstallationen wie Strike (1969–1971) und Circuit, seinem Beitrag zur documenta V (1972), begonnen hatte. Während er bei diesen minimalistischen Arbeiten Ausstellungsräume noch durch aufrecht stehende Stahlplatten in verschiedene Volumina zerteilt hatte, beabsichtigte er nun, die Raumwirkung durch plane Zeichnungen an der Wand zu verändern. Wie kein zweiter Künstler hat Richard Serra in Interviews, Statements und eigenen Schriften immer wieder die konstitutive Bedeutung des Standortes für das Zustandekommen seiner Arbeiten betont. Folgerichtig entstanden seine großformatigen Zeichnungen, die er selbst als canvas drawings bzw. als drawing installations bezeichnet, in intensiver Auseinandersetzung mit den architektonischen Gegebenheiten ihrer jeweiligen Bestimmungsorte. Die Leinwand schnitt er hierbei erst am Ort der Installation zurecht. Anschließend fixierte er sie ungerahmt mit Metallklammern direkt an der Wand und begann dann mit der eigentlichen Arbeit an der Zeichnung. Auf diese Weise stimmte er seine künstlerischen Eingriffe auf die konkreten architektonischen Bedingungen und das gegebene räumliche Volumen ab. Neben dem Studio und dem Stahlwalzwerk wird in Serras künstlerischem Arbeiten so auch der museale Raum zum Ort der Werkentstehung. Im Sinne der Ortsspezifik werden folglich die Wände, deren plane Flächen Serra durch Räumlichkeit evozierende Einschübe unterbricht oder entgrenzt, zum Ort (site) der ästhetischen Interaktion. Die scharfen Konturen der schwarzen Formen fungieren hierbei als Schnittstellen zu Fläche und Raum. Die Bedeutung eines Kunstwerks liegt für Serra nicht nur in der Zeichnung als eigenständigem Werk begründet. Sie generiert sich vielmehr immer auch durch den räumlichen Kontext und die architektonische Umgebung. Um eben diese Verschränkung von Ortsbezug und Betrachterwahrnehmung im zeichnerischen Werk Serras zu beschreiben, schlug der Kunsthistoriker Yve-Alain Bois den Begriff der „Situationszeichnung“ (situation drawing) vor. Richard Serras Zeichnung Fassbinder II (Drawing for Münster) entstand 1984 als permanente, ortsspezifische Arbeit für ein vergleichsweise schmales Wandfeld im zweiten Obergeschoss des Museumsaltbaus. Seitlich begrenzt durch die zum Domplatz gelegene Fensterwand und eine heute durch Umbaumaßnahmen verschwundene Glastür zum Lichthof, trat das lichtabsorbierende, opake Schwarz der bis zum Boden hinabreichenden Zeichnung ursprünglich in eine dynamische Beziehung zu den architektonischen Öffnungen und den Sichtachsen der unmittelbaren Umgebung. Zugleich nahm ihre äußere Kontur Bezug auf Serras gleichnamige Skulptur Fassbinder I, die bereits 1983 in die Sammlung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte aufgenommen wurde (heutiger Standort: Innenhof des Bibelmuseums der Westfälischen Wilhelms-Universität). Die bauliche Veränderung im Zuge des Umbaus machte allerdings eine Versetzung der Zeichnung um einige Meter von ihrem ursprünglichen Installationsort nötig. Sie befindet sich heute zentral platziert auf einem deutlich längeren Wandfeld, wodurch sie stärker als zuvor in Beziehung zur gesamten Länge des Raumes tritt. Als Zeichenmaterial formte Serra aus geschmolzener Ölkreide Blöcke in Ziegelsteingröße, die er in gleichmäßigen, weitgehend mechanisierten Bewegungen auf die Leinwand aufbrachte. Hierbei verwendete er die zähe schwarze Masse teilweise im warmen Zustand, also nass in nass, um eine körnige, matte Oberflächenwirkung zu erzielen. Bewusst wollte er so eine expressive oder malerisch-gestische Binnenstruktur vermeiden, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen und vom räumlichen Kontext ablenken würde. Wie bei seinen berühmten Splashings der 1960er Jahre, für deren Herstellung er siedendes Blei gegen die Bodenkante eines Raumes schleuderte, sind auch im Fall seiner installativen Zeichnungen Prozess und Produkt untrennbar verbunden: „work comes out of work“ – das Werk entsteht aus dem Arbeiten selbst. Oder, wie Serra mit Bezug auf das Zeichnen formulierte: „Drawing is a verb.“
Julius Lehmann
Güse, Ernst-Gerhard: Richard Serra. Fassbinder II (Drawing for Münster), 1984 (Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster. Das Kunstwerk des Monats November 1987), Münster 1987. Bois, Yve-Alain: Beschreibungen, Situationen, Echos: Über Richard Serras Zeichnungen, in: Janssen, Hans (Hg.): Richard Serra. Drawings / Zeichnungen, 1969–1990. Catalogue raisonné / Werkverzeichnis, Bern 1990, S. 31–43. Serra, Richard: Writings, Interviews, Chicago 1994. Lehmann, Julius: Fassbinder II (Drawings for Münster), 1984, Fassbinder I, 1982/83 (LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster. Das Kunstwerk des Monats August 2018), Münster 2018.