Gerhard Richter Familie Wende, 1971
Das schwarz-weiße Bild zeigt eine für die Porträtmalerei klassische Dreieckskomposition eines Elternpaares mit Kind. Der Vater beugt sich schützend über die Familie, alle blicken in die Kamera. Allein – so richtig zu erkennen ist niemand, denn das Bild ist stark verwischt. Gerhard Richter hat sich diese Szene nicht ausgedacht, sondern sie als Auftragsarbeit von einer privaten Fotografie abgemalt. In Auftrag gegeben hat sie der Münsteraner Fotograf Manfred Wende, der mehrere Familienfotos an Gerhard Richter schickte. Später sind diese Fotos auch Teil des »Atlas« von Richter geworden, seinem großen, lebenslang gepflegten Bildarchiv. Wende war einer der frühen Sammler von Richter. Als dieser das fertige Bild überreichte, schrieb er dazu: »Das Bild ist für Sie vielleicht etwas zu verschwommen und diffus – aber ich kann Ihnen kein anderes machen.« Die Unschärfe in seinen Arbeiten nach Fotografien ist seit 1961 eine charakteristische Arbeitsweise von Richter. Diese Herangehensweise ermöglicht es ihm, Distanz zum Dargestellten einzunehmen. Zum einen entzieht sich Richter dadurch den traditionellen Erwartungen an einen Maler, der an der Wahl des Themas, der Komposition und Farbgestaltung gemessen wird. Zum anderen macht er dennoch seine Rolle als Maler deutlich: Während das ursprüngliche Foto immer einen Bezug zur Wirklichkeit hat und diese als Zeuge eines tatsächlichen »So-ist-es-Gewesen« dokumentiert, erinnert die Unschärfe des gemalten Bildes daran, dass es hier um mehr als die reine Wiedergabe des Fotomotivs geht. Die Malerei macht aus dem mit der Wirklichkeit verbundenen Motiv vielmehr eine unregelmäßig getönte Oberfläche, eine Struktur aus Hell und Dunkel, die auf die Leinwand aufgetragen wird. Richter geht es um die Frage, ob die gegenständliche Malerei ebenso wenig wie die abstrakte Malerei in der Lage ist, die Wirklichkeit wiederzugeben. Wäre das der Fall, wäre auch die in den 1960er Jahren getroffene ideologische Unterscheidung zwischen westlich-abstrakter und sozialistisch-figürlicher Malerei hinfällig gewesen. Richter geht es darum, vorgefertigte Meinungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und anhand seiner Arbeiten kann man feststellen, dass Malerei, sei sie abstrakt oder figurativ, immer ein distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit einnimmt.
Melanie Bono
Godfrey, Mark / Serota, Nicholas (Hg.): Gerhard Richter. Panorama [Ausst. Kat.], München, London, New York 2011.
Ehrlich, Kathrin: Gerhard Richter, Familie Wende, 1971 (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster. Das Kunstwerk des Monats, August 2010), Münster 2010.
Storr, Robert: Gerhard Richter. Malerei [Ausst. Kat.], Ostfildern-Ruit 2002.
© Gerhard Richter 2023 (05062023)
Dauerleihgabe einer gemeinnützigen Stiftung
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