Meister von Liesborn Fragment vom Hochaltarretabel aus Liesborn: Klagender Engel wohl nach rechts schwebend, um 1480
Unter den westfälischen Malern der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ragt der nach seinem Hauptwerk benannte unbekannte Meister von Liesborn aufgrund der eigentümlichen Schönheit und des besonderen Liebreizes seiner Gemälde besonders hervor. Der Vorschlag, ihn mit dem in Münster tätigen Maler Johann von Soest zu identifizieren, ist in der Fachwelt umstritten. Es scheint naheliegender, seine Werkstatt in Soest zu vermuten, da viele seiner erhaltenen Werke für Kirchen und Klöster in der Umgebung der Hansestadt angefertigt wurden. Die Eleganz seiner Figuren und ihre zarte, helle Farbigkeit lassen auf künstlerische Einflüsse aus den Niederlanden und aus Köln schließen. Für die Benediktinerklosterkirche in Liesborn stellte der Maler gleich mehrere Altaraufsätze her, von denen sich das Kreuzaltarretabel (Mitteltafel) ebenfalls in unserem Museum befindet. Das Hochaltarretabel, das in der Mitte die Kreuzigung mit Heiligen und zu den Seiten Verkündigung und Geburt beziehungsweise Darstellung im Tempel und Anbetung der Könige (Abb. Inv. Nr. 614 LM) zeigte, fiel nach der Aufhebung des Klosters 1803 dem Schicksal vieler kirchlicher Werke anheim: Das ursprünglich vermutlich etwa 290 Zentimeter breite Retabel wurde zersägt. Weitere Fragmente befinden sich in der Londoner National Gallery. Die Abtei Liesborn stand zur Entstehungszeit der Malereien unter dem Einfluss der sogenannten Bursfelder Klosterreform, die unter anderem eine Aufwertung der Messfeier und des Abendmahls (Eucharistie) beförderte. Altarbilder konnten und sollten durchaus der Verstärkung der Passionsfrömmigkeit in der Liturgie dienen. Ihre Bildprogramme waren theologisch durchdacht und teils hoch kompliziert. In unserem Fall wandten sich die Gemälde direkt an die Mönche, die sich im Chor der Klosterkirche zu Messe und Gebet einfanden. Details, wie die liturgische Kleidung einiger Engel (als Diakone und Subdiakone) oder das Auffangen des Blutes in den goldenen (Mess-)Kelchen, und deren Betonung legen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Kunstwerk und den Handlungen am Altar nahe. Bemerkenswert ist auch die Reduzierung der Kreuzigung, die sonst erzählerisch im »volkreichen Kalvarienberg« eingebettet ist. Hier haben sich unter dem Kreuz neben Maria und Johannes die Klosterpatrone Cosmas und Damian und die Ordensheiligen Benedikt und seine Schwester Scholastika versammelt.
Petra Marx
Stephan Kemperdick: Westfalen und die Küstenregion. In: Borchert, Till-Holger, u. Antje-Fee Köllermann (Hg.): Van Eyck bis Dürer. Altniederländische Meister und die Malerei in Mitteleuropa 1430–1530 [Ausst. Kat.]. Brügge 2010. S. 221–229. Andreas Priever: Anmerkungen zum Schicksal des Hochaltars und des Heilig-Kreuz-Altars der ehemaligen Klosterkirche Liesborn. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch (Bd. 65). Köln 2004. S. 301–314. Brandl, Rainer: Acht Fragmente des Liesborner Hochaltares. In: Jászai, Géza (Hg.): Imagination des Unsichtbaren (Bd. 1) [Ausst. Kat.]. Münster 1993. Kat. Nr. A 8.3. S. 426–428. Jochen Luckhardt: Die Heiligen unter dem Kreuz. Eine inhaltliche Interpretation des Liesborner Altares. In: Niederdeutsche Beiträgezu Kunstgeschichte (Bd. 31). München 1992. S. 50–67. Petra Marx: Meister von Liesborn, Acht Fragmente vom Hochaltarretabel des Benediktinerklosters Liesborn, um 140, in: Einblicke – Ausblicke. Spitzenwerke im neuen LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, hrsg. v. Hermann Arnold, im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Wienand Verlag, Köln 2014, S. 84.