Lyonel Feininger Düne am Abend, 1927
Seit 1924 verbrachte Feininger den Sommer regelmäßig in Deep, einem kleinen Fischerort an der pommerschen Ostsee. Fasziniert von der weitläufigen Küstenlandschaft und den unterschiedlichen Wetterphänomenen, die er an der See beobachten und skizzieren konnte, wurden die Seebilder neben den Architekturmotiven zum zweiten thematischen Schwerpunkt seines Schaffens. Ein weiter Himmel erstreckt sich über dem niedrigen Horizont der flach abfallenden Dünenlandschaft. Gewaltige, sich auftürmende Wolken und eine einzelne menschliche Figur steigern die Monumentalität der ansonsten verlassenen Landschaft. Die einzig sichtbare Lichtquelle im Bild ist ein sichelförmiger Mond, und doch zeichnet sich die Arbeit durch ein immaterielles, aus der Tiefe des Bildes kommendes Leuchten aus. Die Aufteilung des Raumes ist von Feininger weitestmöglich vereinfacht worden. Düne, Himmel und Wolkenformation bilden eine dreiteilige Komposition, in der sich die einzelnen Elemente aus scharfwinkligen, prismatischen Formen gegenseitig durchdringen und überschneiden. Feininger löste sich von der konventionellen Luftperspektive der Landschaftsmalerei und erzeugte die Tiefenwirkung durch die der Bildarchitektur immanenten Schichtung des Raumes: Während der Himmel aus angeschnittenen, hintereinander gestaffelten Rechtecken organisiert ist, entwickelte Feininger den horizontalen Dünenstreifen aus spitz zulaufenden Dreiecksformen. Das Vorbild aus der Natur wird stark abstrahiert und, reduziert auf seine elementarsten Bestandteile, in ein geometrisches Linienkonstrukt übersetzt. Die Überschneidungen der einzelnen Formen bewirken die fein nuancierten Farbabstufungen, die Feiningers Arbeit ihre Transparenz und atmosphärische Stimmung verleihen. Gleichzeitig wirken die sanften Farbübergänge der Statik der kristallinen Formen entgegen. Entscheidende Anregungen für die Auflösung der klassischen Raumperspektive und die neue Formsprache bekam Feininger in Paris, wo er 1911 den französischen Kubismus kennenlernte, von dem er, wie er selbst sagte »nie etwas gehört hatte, aber ganz intuitiv, seit Jahren gesucht hatte«. Auch wenn er durch seine Kristallisierung der Form die stilistischen Mittel rezipierte, sah sich Feininger nicht als Kubist. Stattdessen prägte er für seine Kunst die Bezeichnung »Prismarismus«.
Emanuela Gruber
Witte, Andrea: Lyonel Feininger, Düne am Abend, 1927. In: Westfälisches Landesmuseum für Kunst u. Kulturgeschichte Münster (Hg.): Das Kunstwerk des Monats. Dezember 1994. Münster 1994. Büche, Wolfgang (Hg.): Zurück in Amerika: Lyonel Feininger. 1937–1956. München 2009. Finckh, Gerhardt (Hg.): Lyonel Feininger. Frühe Werke und Freunde. Wuppertal 2006. Hess, Hans: Lyonel Feininger. Stuttgart 1959.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Erworben mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen
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- - 1931–wohl 1958 Ruth Maitland, Los Angeles, USA, erworben vom Künstler über Galka Scheyer, Los Angeles - wohl 1958 Nachlass Ruth Maitland/ Walter und Flora Maitland - wohl 1958–o. J. Flora Maitland Dean und John Gilbert Dean, Wilton, USA, erworben durch Erbgang von Ruth Maitland, Los Angeles, USA - […] - spätestens 1963 Galerie Wilhelm Grosshennig, Düsseldorf - seit 1963 LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, erworben von der Galerie Wilhelm Grosshennig, Düsseldorf