Heinrich Maria Davringhausen Der Irre, 1916
Im Kriegswinter 1916 malt der 22-jährige Heinrich Maria Davringhausen, der wegen eines Augenleidens vom Kriegsdienst befreit wurde, in Berlin dieses lebensgroße Bild. Befreundet mit sozialkritischen Personen im Kreis um den Künstler George Grosz (1893–1959) verkehrt er mit Maler:innen und Literat:innen.
Die zentrale männliche Figur im Bild ist weiß gekleidet. Ihre nach links gewandten Arme bewegen sich mit hageren Händen orientierungslos seitwärts, während der Blick entgegengesetzt nach oben gerichtet ist. Die Hauptfigur ist von unterschiedlichen gleichzeitig ablaufenden Szenen umgeben: Zur Linken ringen ein deutscher und ein französischer Soldat miteinander, fratzenhaft, behelmt und bewaffnet Zur Rechten nähern sich marschierende Militärtruppen in Reih und Glied, Fahnen schwingend.
Inmitten dieses angedeuteten Kriegsgeschehens ist der „Irre“ mit seiner weißen, unbefleckten Kleidung und einem Nimbus, also einem Heiligenschein, als Heiliger gekennzeichnet. Umgangssprachlich wird der Begriff "Irrer" abwertend gebraucht. Hier ist es jedoch ein positiver Außenseiter in einer verrückt gewordenen Welt. Das Irrewerden als Reaktion auf erschütternde Kriegserlebnisse entsprach realer Erfahrungen: Viele Soldaten, darunter auch Künstler, erlitten schwere psychische Zusammenbrüche während des Krieges.
Die Figur bewegt sich hier in einer gotischen Kirche. Angelehnt hat Davringhausen die Architektur an ein Bild von Robert Delaunay (1885–1941) mit der Kirche von St. Séverin in Paris. Allerdings weist der Spitzbogenbau noch stärkere perspektivische Verzerrungen auf als die Vorlage. Die Kirchenarchitektur wird dekonstruiert und formiert sich neu. So zeigen auch die beiden Kugeln auf der rechten Bildseite eine stehende und eine stürzende Kirche. Zusammen mit dem kristallinen Boden, ist die umgebende Architektur sowohl Sinnbild für eine zerfallene Epoche wie für den Anbruch einer neuen Zeit. Davringhausens Gemälde ist ein Zeugnis des Übergangs: Es vereint kubistische Elemente im Hintergrund mit expressiven Formen - wie dem kristallinen Boden – mit einem glättenden Farbauftrag, der bereits den magischen Realismus der 20er Jahre vorwegnimmt.
Franz, Erich (Hg.): Werke der Moderne bis 1945 im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 1999, S. 122-123.
Eimert, Dorothea: Heinrich Maria Davringhausen. Monographie und Werkverzeichnis, Köln 1995, S. 16-17, 46-50, Kat.-Nr. 100.
Güse, Ernst-Gerhard: Heinrich Maria Davringhausen, Der Irre, 1916 (Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster. Das Kunstwerk des Monats, Oktober 1978), Münster 1978.
- […] - spät. 1959–1961 Eberhard Giese, Kunst und Antiquitäten, Köln - seit 1961 LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, erworben von Eberhard Giese, Kunst und Antiquitäten, Köln